Beitrag “Konrad Brechmann wird 75 Jahre alt” aktualisiert anläßlich seines Abschieds am 9.02.2017
Seit 1968 war Konrad Brechmann als Gehörlosenlehrer, von 1978 bis 2002 als Rektor an der Gehörlosenschule in Bielefeld-Mitte tätig.
Bei seinen Schülern war er immer ein überaus beliebter Lehrer, der auch in seiner Freizeit interessante Projekte mit ihnen durchführte. Drehen von Schmalfilmen und Videos, heiteres Theaterspiel mit selbst erarbeiteten Texten, Vorbereitung und Durchführung von zahlreichen Schulfeiern/-Veranstaltungen, Erstellen von Schülerzeitungen, Konstruktion einer lebensgroßen Gipsplastik für das Foyer der Schule oder Erlernen des Wasserskifahrens in Schloss-Neuhaus belebten den Schulalltag und die Freizeit der gehörlosen Internatskinder. Wochenendfahrten mit jeweils 3 Schülern in seinem privaten PKW nach Berlin oder an die Nordsee weiteten für die Hauptschüler den Blick „über den Zaun hinaus“. Zu den besonderen Höhepunkten gehörten, jeweils während der Schulferien, die Abschlussfahrten von drei von ihm geführten Schulklassen. Ziel war, dass die Schüler das Geld für die Fahrten durch die Fertigung und den Verkauf ihrer Bastelarbeiten selbst erarbeiteten. Im Werkunterricht wurden Prototypen von verkaufbaren Objekten entwickelt, zu Hause ging es dann in die Serienfertigung (Emaille-Schmuck, kleine Gipsfiguren, Tonblumen, die im Schulofen gebrannt wurden, Nagelspannbilder, Ölbilder mit Zufallsfigurationen usw.).
Weil die Schüler sehr motiviert arbeiteten und ihre Sachen während mehrerer Jahre auf Märkten oder in Fußgängerzonen verkauften, konnten die Fahrtziele außergewöhnlich ausfallen. Zunächst war eine Fahrt nach München geplant, dann wurde mit steigendem Klassenkonto Rom ins Auge gefasst, schließlich war die Reisekasse so gefüllt, dass die Klasse 1977 während der Osterferien nach Kenia fliegen konnte: Eine Foto-Safari im Tsavo- und Amboseli-Park, Hochseeangeln, Wasserski, ein Flug mit Kleinflugzeugen zur Trauminsel Lamu wie auch Besuche in gehörlosen Familien und der Gehörlosenschule in Mombasa standen auf dem Programm.
Die folgenden 2 Klassen fanden für ihr Gebasteltes wegen des veränderten Zeitgeschmacks kaum noch Käufer, so entstand die Idee, exotische Straßenshows (Feuerschlucken und -spucken, Liegen und Stehen auf Nagelbrettern und Glasscherben, Jonglierübungen u.a.) zu veranstalten. Mit zusätzlicher Unterstützung der „Schütz-Stiftung“ konnten zwei weitere Abschlussklassen in die USA reisen. Eindrucksvoll waren der Besuch der Gehörlosenschule in New York, Ground Zero sowie die Gallaudet Universität in Washington, an der es nur hörgeschädigte Studenten gibt. Die amerikanische Gebärdensprache (ASL) ist Unterrichtssprache. Cape Canaveral, Hubschrauberflüge, Jetski-Fahren und Disney-Land (in Florida) waren die eher touristischen Erlebnisse.
Die „Schütz-Stiftung“ hatten sich die Schüler mit ihrem Lehrer gewissermaßen selbst „erarbeitet“. Während einer Verkaufsaktion seiner Klasse in Gütersloh – in Nähe des Kiosks des Ehepaars Schütz – wurde das Interesse von Frau Schütz zur Förderung gehörloser Kinder geweckt. Auf dem Sterbebett verfasste sie mit ihrem Notar ein entsprechendes Testament. Etwa ein Jahr nach ihrem Tod konnte die von B. initiierte „Schütz-Stiftung“ gegründet werden.
1997 erhält die Schule für bewegungsfreundliche Schulhofgestaltung (u.a. Balancierschlange, Kükelhausweg, Hüpfweg, 25 m langes „Hörrohr“, Summstein u.a.) den ersten Preis (1500,-DM) von der Sparkasse Bielefeld. Die Schulhofgestaltung wurde von einer Klasse von B. vorgenommen.
Fotos seiner Schüler erzielten auf Ausstellungen in Hamburg und Münster jeweils 100,- und 200,-DM Preisgeld.
Alle Projekte wurden von den Eltern der Schülerinnen und Schüler tatkräftig unterstützt, auch das Lehrerkollegium wirkte ermutigend mit. Zusammen mit Kollegen/innen gab er mehrere Broschüren heraus, die über die Problematik der Gehörlosigkeit und das Schulleben informierten.
Als Junglehrer förderte B. – nebenberuflich – stammelnde und stotternde Vorschulkinder. Als Schulleiter übernahm er später mehrfach den Prüfungsvorsitz für die 2. Staatsprüfung von Lehramtsanwärtern für Sonderschulen.
Neben dem Schuldienst absolvierte B. ab 1972 berufsbegleitend ein Studium der Diplompädagogik mit den Schwerpunkten visuelle Wahrnehmung Gehörloser und Verhaltensschwierigen-Pädagogik an der Uni Bielefeld.
Wertvolle Erfahrungen sammelte er als praktische Anwendung der Theorie durch Mathematik-Unterricht in der Jugendstrafanstalt in Herford (1-mal wöchentlich ein Jahr lang). Als in seiner Schule ein verhaltensauffälliger Schüler von der Schule verwiesen werden sollte, nahm B. ihn in seine Wohnung auf. Nach wenigen Wochen kehrte der Junge in das Internat zurück und war seitdem wieder ein kooperativer Schüler.

In diese Zeit fiel auch Brechmanns „Kampf“ gegen das in ganz Deutschland
verbreitete Tragen von weißen Kitteln im Gehörlosen-Unterricht.
Ein abgeschnittener Kittel hängte – zur Erinnerung –
im damaligen Museum der Hörgeschädigten in Frankfurt.
Als Schulleiter hielt B. den Kontakt zur Universität Bielefeld aufrecht (Referate in der UNI u. Hospitationen von Studenten in der Schule.) Auf die pädagogische Ausrichtung seiner Schule nahm er nachhaltig Einfluss. Die Gebärdensprache war zu dieser Zeit in der Schule verpönt, eher vorsichtig versuchte B. mit Hilfe lautsprachbegleitender Gebärden die harten Grenzen aufzuweichen. Die Gebärdensyntax war in der damaligen Zeit für die unterrichtliche Verwendung tabu.
1995 gab B. ein Sprach-Übungsbuch unter Zuhilfenahme der Gebärdensprache in Zusammenarbeit mit erwachsenen Gehörlosen heraus, das vom Kultusministerium NRW gefördert und finanziert wurde. Auf dem Weltkongress der Hörgeschädigten in Israel hielt er 1995 einen Vortrag mit anschließender Diskussion über dieses Übungsbuch. (Ziel des Buches: Förderung der Lautsprache bei Gehörlosen mit Unterstützung der Gebärdensprache.) Der Ansatz löste heftige Diskussionen bei den deutschen Gehörlosenlehrern aus. Nicht alle Gehörlosenschulen im deutschsprachigen Raum waren 1995 bereit, sich mit der Syntax der Gebärdensprache zu befassen. Dennoch wurde – wie eine Evaluierung ergab – in 30 % der deutschsprachigen Gehörlosenschulen das Übungskonzept akzeptiert.
Vor der „Bundesdirektorenkonferenz der Hörgeschädigtenschulen“ hielt B. zu den ihn bewegenden Themen Referate, seine Veröffentlichungen erfolgten in der Fachzeitschrift Hörpäd.
An seiner Schule in Bielefeld führte er systematisch die „Elternschulung“ ein mit dem Ziel, dass auch hörende Eltern lernten, eine adäquate Kommunikation mit ihrem gehörlosen Kind zu führen. Oberstes Ziel war ihm immer, den Schülern nicht nur Lautsprache zu vermitteln, sondern sie am allgemeinen Wissen und aktuellen Informationen teilhaben zu lassen.
Nach langer Vorbereitungsarbeit erreichte Brechmann 1986, dass die Gehörlosenschule einen durch Spenden finanzierten Kleinbus im Unterricht einsetzen durfte. Im Laufe der folgenden 16 Jahre wurden durch seine und die Initiative von Eltern 3 Kleinbusse angeschafft. Die Schüler konnten so vor Ort Situationen erleben, die dann im Sprachunterricht aufgearbeitet wurden.
B. war immer aufgeschlossen für wissenschaftliche Neuerungen, ließ sich jedoch nicht blauäugig einfangen. So führte er für eine Schweizer Hörgerätefirma eine Effizienzprüfung in der Gehörlosenschule durch mit einem leider negativen Ausgang für die Schweizer Firma. Im Ergebnis wurden die teuren Höranlagen abgeschafft. Tiefton-Hörgeräte allein genügten angesichts der geringen Hörreste.
Die Entwicklung des Cochlea Implantates erkannte Brechmann als größte Hilfe für Gehörlose überhaupt. 1990 wurde ein Schüler seiner Klasse als erster der Schule mit einem modernen Cochlea-Implantat ausgestattet. In den Anfangsjahren führte er immer wieder Informationsveranstaltungen zu diesem Thema in der Schule durch.
Heute haben schon gehörlose Kinder im 1. Lebensjahr die Chance, durch das Cochlea Implantat wie annähernd normal Hörende aufzuwachsen. U.a. dadurch nahm die Zahl der gehörlosen Schulkinder stetig ab und führte schließlich zur Auflösung der Gehörlosenschule an der Bökenkampstraße. Ein paar Jahre nach Pensionierung von B. wurden zuerst die gehörlosen Schüler, danach die mehrfachbehinderten und schließlich die Kindergartenkinder in die Schwerhörigenschule in Bielefeld-Senne als Sonderabteilung untergebracht.
In den neunziger Jahren hatte sich B. um die Vermittlung der gehörlosen Gastkinder aus Tschernobyl sehr bemüht, die in den Sommerferien zur Erholung bei gehörlosen Gasteltern im Bielefelder Großraum und auch bei sich zuhause untergebracht wurden.
Noch heute geraten seine ehemaligen Schüler/innen in Erinnerung an all diese Aktivitäten ins Schwärmen. Der Kontakt zu seinen Schülern riss vielfach auch nach deren Schulzeitende und im eigenen Ruhestand nicht ab.
B. hielt während seiner aktiven Zeit immer Kontakte auch zu erwachsenen Gehörlosen. Ihm war es wichtig, dass die Schüler sich auch nach der Schulentlassung in ihrer Gebärdensprachgemeinschaft aufgehoben fühlen. Seitens einer Gruppe von erwachsenen Gehörlosen wurde der Wunsch an ihn herangetragen, für jugendliche und erwachsene Gehörlose ein Begegnungszentrum in Bielefeld zu entwickeln. 
Nach langem Bemühen gelang es, 1981 ein ehemaliges Internatsgebäude des LWL mit Unterstützung der AWO als Träger in das noch heute betriebene Hörgeschädigtenzentrum umzugestalten. Dabei leisteten die Hörgeschädigten mit hohem Engagement einen enormen Arbeitsaufwand (Raumvergrößerungen, Kegelbahnbau, Toiletten-Einbau, Fußböden- und Malerarbeiten usw.).
Heutiger Träger des Zentrums – Förderverein Kulturzentrum für Hörgeschädigte Bielefeld e.V. – ist ein Verein, der von Hörgeschädigten selbständig geführt wird. Seit 1994 stand B. fest an der Seite der Hörgeschädigten beim Bemühen um den Erhalt dieses Zentrums, das immer wieder dem Rotstift zum Opfer zu fallen drohte. Für seinen Einsatz für die Hörgeschädigten erhielt er 1996 das Bundesverdienstkreuz. Auch im Ruhestand blieb B. ansprechbar für die Belange der Hörgeschädigten. 2014 wickelte er die Neugründung der „Änne-und-Hans-Scheibner-Stiftung“ zur besonderen Förderung von Hörgeschädigten ab. Das Hörgeschädigtenzentrum an der Kurze Str. 36c, das seit 2011 den Zusatznamen „Änne und Hans Scheibner-Haus“ trägt, konnte aus unterschiedlichen Gründen nicht mehr erhalten werden. Im Frühjahr 2017 wurden Räume im Umweltzentrum an der August-Bebel-Str. 16-18 bezogen. An dieser Entwicklung nahm er bis zuletzt Anteil. Dass der Weg zur neuen Bleibe mit Hilfe der Änne-und-Hans-Scheibner-Stiftung geebnet werden konnte, hatte er noch miterlebt und das war ihm gewiss ein großer Trost.
Die Bielefelder Hörgeschädigten trauern um ihren beliebten Lehrer,
unermüdlichen Unterstützer, Helfer und Ansprechpartner Konrad Brechmann,
der am 9. Februar 2017 im Alter von 77 Jahren an den Folgen einer Krebserkrankung verstarb.
D A N K E !
Der Gehörlosen-Sportverein Bielefeld von 1912 und OWL e.V.,
der Förderverein Kulturzentrum für Hörgeschädigte Bielefeld e.V.
sowie weitere 13 Gruppen und Vereine, die im HGZ Bielefeld ihren Sitz und ihre Heimat haben,
trauern um Herrn Brechmann als ihren besonderen Förderer, Kämpfer, Vorbild und Mutmacher.
Herr Brechmann hinterlässt eine große, schmerzhafte Lücke. Wir denken an ihn
mit großer Dankbarkeit und werden sein Andenken stets in Ehren halten.
Die Details wurden aus „Erinnerungen an meine Lehrer- und Schulzeit“,
verfasst von Konrad Brechmann, 273 Seiten, entnommen.
Rückfragen gegebenenfalls an Frau Ruth Brechmann, Tel. 0521-102110
Konrad Brechmann,Traueransprache
Konrad Brechmann,Nachruf NW+WB 2017.02.18
Konrad Brechmann,Artikel WB 2017.02.15
Konrad Brechmann,Artikel NW 2017.02.17
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